wooden cloud / Saarbrücken

In der Langen Nacht der Kirchen startete am 24. Mai 2015 in der Johanneskirche Saarbrücken das Projekt wooden cloud von Martin Steinert und André Mailänder.
von Ingeborg Besch

Titelbild zum Buch wooden cloud / Saarbrücken

Zu diesem Zeitpunkt war ein aufgestapelter Berg aus Dachlatten von je 60 bis 120 cm Länge zu sehen und im Chor der Kirche ein nichtssagendes Holzgerüst aus dem gleichen, schlichten Baumaterial. Ähnlich der Situation im Atelier, wo ein Keilrahmen, eine leere Leinwand und Pigmente in Pulverform neben Dosen gefüllt mit Leinöl uns Betrachtenden nicht die leiseste Ahnung geben können, was später mit dem Bild entstehen wird.

Allerdings war das Ausgangsmaterial für Martin Steinert noch gar nicht wirklich vorhanden. Denn die Besucherinnen und Besucher wurden aufgefordert, einen ganz privaten und persönlichen Wunsch mit schwarzem Filzstift auf ein Stück Holz zu schreiben. Für gewöhnlich lernen wir im Umgang mit Kunstwerken: „Finger weg – bitte nicht berühren“. Hier fordert man uns auf, den Werkstoff, aus dem das Besondere entstehen soll, zu beschriften. Erst nachdem der normalerweise passiv aufnehmende Zuschauer zur Tat geschritten ist, also aktiv wurde, erst danach ist der nun gestaltete Werkstoff Ausgangsmaterial für das Kunstwerk.

Martin Steinert hat die additive Arbeitsmethode aus seinem Werdegang entwickelt. Der gelernte Steinbildhauer wechselte zum vergänglicheren Holz, weniger dauerhaft, aber lebendiger. Zunächst arbeitet er seine Figuren aus einem Block, dann setzt er den zu formenden Block aus verleimten Holzstücken zusammen, um diesen durch Wegnehmen zu gestalten. Schließlich belässt er die Holzstäbe in ihrer neutralen Form und fügt Stab für Stab sich überlagernd und verdichtend zu einer neuen Form, dem Großen Ganzen. Es wird also kein Material mehr weggenommen, es bleibt kein Abfall übrig, es wird nur zusammengefügt. Am Ende ergeben die vielen neutralen Einzelteile die eine, hier in der Johanneskirche aus 1500 Elementen bestehende, majestätisch schöne Rundform. Wie eine Krone scheint sie im ausladenden Chor der Kirche zu schweben. Ihre Proportionen fügen sich in die Architektur ein, die Struktur der Stäbe korrespondiert mit den Glasfenstern. Die Form besteht auch aus vielen Zwischenräumen, durch die das Licht bricht, das macht sie auch leicht und lebendig. Wer die Kirche betritt, hält inne, muss sich ob der ungewohnten Erscheinung sammeln, wird andächtig. Wir wollen an etwas denken und wissen durch das Unbekannte nicht woran: unerreichbar, nicht recht fassbar, dabei symmetrisch und scheinbar schwerelos.

Zurück zu unseren menschlichen, irdischen Wünschen. Sie zeugen meist von der Schwere der Existenz. Durch sie sind wir Teil des Großen Ganzen geworden. Im beginnenden Zeitalter der Cyber-Welt, in der wir täglich über die Cyber-Cloud kommunizieren, finden sich hier, fast etwas kindlich, unsere Wünsche und Sehnsüchte auf Dachlatten wieder. Ja, der Weg geht sogar auch umgekehrt. Die Wünsche können nicht nur vor Ort, sondern auch anonym im Web platziert werden. Sie werden dann von fremder Hand in neutraler Schrift auf ein Holz geschrieben.

Die hölzerne Wolke wird ihrem Namen gerecht werden und sich nach sechs Wochen wieder auflösen. Aber die einzelnen Bestandteile, die mit Wünschen beschriebenen Latten, ziehen in weitere Städte, voraussichtlich nach Berlin und nach New York, um sich dort in den Reigen neuer Wünsche einzufügen und eine neue Wolke zu bilden.

Keine der Formen des Großen Ganzen wird als solche Bestand haben, und doch sind alle Aspekte der Formen gültig. Das übermittelt uns die fotografische Arbeit von André Mailänder, deren Dauer von unbestimmbarer Zeit sein wird. Mit ihr setzt die vierte Dimension ein, sie transformiert den dreidimensionalen, vergänglichen Körper der Skulptur ins Bild. Mit dem Blick dokumentarischer Unbestechlichkeit verdichtet sich absichtslos das Vorgefundene in ein neues Stück Welt. Durch den Fotografen werden aber auch die Wünsche der Menschen über deren/unseren Tod hinausgetragen. Jede einzelne Holzlatte wurde ins Bild gebannt. In ihrer Reihung ergeben sie ein Lesebuch der Seelen vieler Menschen und im Lesen verschmelzen all diese Einzelwünsche in einer einzigen Seele, nämlich der des Lesenden.

Dieses Phänomen hat der französische Denker Michel Henry den „absoluten Subjektivismus“ genannt. Subjektiv, weil je speziell aus einem Individuum entstanden, absolut, da die angeschlagenen Saiten allen Menschen eigen sind.